Maus und Ratte als Modell in der Multiple-Sklerose-Forschung?

(30.01.2014) Wissenschaftler der TiHo haben vorhandene Datensätze verschiedener Tiermodelle systematisch verglichen.

Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus dem Institut für Pathologie der Stiftung Tierärztliche Hochschule Hannover (TiHo) haben bereits verfügbare Daten zur Multiplen Sklerose (MS) und experimenteller Tiermodelle neu analysiert. Ihre Ergebnisse haben sie in dem Online-Fachmagazin PLOS ONE veröffentlicht.

Stiftung Tierärztliche Hochschule Hannover (TiHo) Tierexperimentelle Studien sind für die Grundlagenforschung und für Therapieversuche unverzichtbar. Jedoch steht immer wieder zur Diskussion, ob und inwieweit Ergebnisse aus Tierversuchen auf den Menschen übertragbar sind.

Viele humane Erkrankungen kommen bei Tieren nicht vor und müssen bei den Versuchstieren nachgeahmt werden. So auch die Multiple Sklerose (MS), die bei Tieren nicht auftritt.

Die MS des Menschen ist eine unheilbare entzündliche, vermutlich immunvermittelte Erkrankung des zentralen Nervensystems.

Bei dieser Autoimmunerkrankung greifen körpereigene Abwehrzellen die Myelinscheiden der Nervenfasern an, wodurch entzündliche Herde im Gehirn und im Rückenmark entstehen.

Die Myelinscheide isoliert die einzelnen Nervenfasern im Zentralnervensystem. Sie ist für die Impulsweiterleitung unersetzlich.

Ihre Zerstörung, die sogenannte Demyelinisierung oder auch Entmarkung, führt dazu, dass Nervenimpulse nicht weitergeleitet werden können.

Dadurch kommt es zu neurologischen Symptomen, die je nach Lokalisation und Ausprägung der Herde sehr unterschiedlich ausfallen können.

Bei einer Entzündung des Sehnervs kann es zu Sehstörungen kommen, bei Herden, die im Hirnstamm lokalisiert sind, leiden die Erkrankten beispielsweise unter Schwindel.

MS ist eine der häufigsten neurologischen Erkrankungen junger Erwachsener, weltweit sind etwa 2,5 Millionen Menschen betroffen. Trotz intensiver Forschung ist die Ursache für die Demyelinisierung bislang nicht geklärt. Um Ansatzpunkte für neue Therapiemethoden zu finden, untersuchten die TiHo-Pathologen nun Gemeinsamkeiten der einzelnen Erkrankungen.

„In der experimentellen MS-Forschung haben wir die Situation, dass viele unterschiedliche Ursachen zu ein und demselben pathomorphologischen Resultat, nämlich der Demyelinisierung, führen.

Es ist nicht auszuschließen, dass eine ähnliche Vielgestaltigkeit der Ursachen auch dafür verantwortlich ist, dass die MS therapeutisch so schwer angreifbar ist“, so Dr. Reiner Ulrich, PhD, aus dem Institut für Pathologie.

„Unsere Überlegung war es, die gemeinsame Schnittmenge der veränderten Gene, Signal- und Stoffwechselwege bei möglichst vielen Ätiologien herauszuarbeiten, um so die besten Möglichkeiten für neue Therapieansätze zu finden“, erklärt Ulrich die Fragestellung der Untersuchung.

„In der aktuellen Studie nutzen wir die frei verfügbaren Datensätze von drei Entmarkungserkrankungen, die beim Tier induziert werden: Experimentelle autoimmune Enzephalomyelitis (EAE), Theilervirus-Enzephalomyelitis und ein transgenes Tumor-Nekrose-Faktor-überexprimierendes Mausmodell“, sagt Professor Dr. Wolfgang Baumgärtner, PhD, Leiter des Instituts für Pathologie.

Bei der EAE werden den Versuchstieren Proteine aus den die Nervenfasern umgebenden Myelinscheiden injiziert, die eine der MS ähnliche Autoimmunreaktion auslösen und dadurch zur Demyelinisierung führen. Das Theilervirus führt bei empfänglichen Mäusen zu einer dauerhaften Virusinfektion des Zentralnervensystems mit chronisch-entzündlicher Demyelinisierung.

Das dritte Modell arbeitet mit transgenen Tieren, bei denen spontane Demyelinisierungen auftreten. Die Genveränderung bewirkt im Zentralnervensystem der Mäuse eine Überproduktion des Tumor-Nekrose-Faktors-? (TNF).

Dieser Faktor wird im Normalfall in bestimmten Abwehrzellen gebildet und spielt bei akuter Entzündungsreaktionen eine zentrale Rolle. Eine Gemeinsamkeit zur humanen Erkrankung: In akuten MS-Läsionen findet man ebenfalls eine hochregulierte TNF-Expression.

Dort setzten die Untersuchungen der Pathologen an. Die sogenannte Mikroarray-Technologie ermöglicht es, die Expression des Transkriptoms, das heißt, die Ableseaktivität von allen 20.000 Genen eines Säugetiers gleichzeitig zu bestimmen.

Die Forscher verwendeten Mikroarray basierte Genexpressionsdaten, die von verschiedenen wissenschaftlichen Arbeitsgruppen in freizugängliche Datenbanken eingespeist wurden.

Zunächst wollten sie wissen, welche Gene ein unterschiedliches Expressionsmuster zeigen, wenn man die Daten von Entmarkungserkrankungen mit denen einer gesunden Kontrollgruppe vergleicht.

Das heißt, sie haben Datensätze von MS-Patienten mit denen gesunder Menschen verglichen; ebenso wurde bei den Tiermodellen verfahren. Die gefundenen Gene werden differentiell exprimierte Gene (DEGs) genannt. In einem weiteren Schritt untersuchten sie, welche DEGs sich bei MS-Patienten und den drei Tiermodellen decken.

Dabei fanden sie lediglich zwölf übereinstimmende Gene. Erstaunlich war, dass diese zwölf Gene bei der MS runter-, in den Tiermodellen jedoch hochreguliert waren.

„Das heißt, die wenigen Gene, die bei allen Erkrankungen differentiell exprimiert wurden, verhielten sich in den Tiermodellen komplett entgegengesetzt zur humanen Erkrankung.

Eine Erklärung dafür gibt es bisher nicht“, fasst es Barbara Raddatz, Doktorandin im Institut für Pathologie, zusammen.

Die Wissenschaftler sorgten zwar für eine große Variabilität in den Tiermodellen - unterschiedliche Spezies, unterschiedlich induziert, unterschiedliche Lokalisation der Veränderung - dennoch gelang es in keinem Fall auf der Ebene einzelner Gene besonders große Übereinstimmungen zur MS nachzuweisen.

„Auffällig ist, dass sich die transkriptionellen Veränderungen der drei untersuchten Tiermodelle untereinander trotz einiger gravierender Unterschiede deutlich ähnlicher sind als der MS“, sagt Ulrich.

Die drei induzierten Erkrankungen bei Maus und Ratte weisen neben vielen pathologischen und immunpathogenetischen Ähnlichkeiten eben leider auch wichtige Unterschiede zur MS auf. Das wirft die Frage auf, inwiefern die Ergebnisse auf die Situation beim Menschen übertragbar sind.

„Die geringe Übereinstimmung könnte darauf zurückzuführen sein, dass das Probenmaterial der MS-Patienten aus sehr alten inaktiven Läsionen stammt, wohingegen in den Tiermodellen vor allem die aktiven Erkrankungsstadien untersucht wurden“, vermutet Ulrich.

Andererseits ist nicht auszuschließen, dass die Unterschiede auf die genetische Komplexität und den entfernten Verwandtschaftsgrad der verwendeten Spezies zurückzuführen sind.

„Wir gehen davon aus, dass die meisten pathologischen Prozesse nicht durch einzelne Gene, sondern durch das komplexe Zusammenwirken mehrerer genetischer Faktoren beeinflusst werden“, erklärt Baumgärtner.

Um die biologischen Prozesse bei Entmarkungserkrankungen besser zu verstehen, gingen die Wissenschaftler darum einen Schritt weiter und analysierten auch das Zusammenspiel mehrerer Gene. Sie untersuchten, ob ganze Gengruppen mit gemeinsamer biologischer Funktion verstärkt oder vermindert exprimiert werden.

Hierzu verwendeten sie die „Gene Set Enrichment Analyse“ (GSEA), die die umfangreichen und komplexen Mikroarray-Datensätze mittels eines komplizierten Algorithmus miteinander vergleicht.

Für diese statistische Methode haben die Wissenschaftler die Daten der Erkrankten, also der MS-Patienten und der Tiere, zusammengefasst.

Dasselbe machten sie mit den Daten gesunder Tiere und Menschen. Anschließend haben sie diese zwei großen Datenmengen auf Unterschiede bei bekannten Signal- und Stoffwechselwegen verglichen. Dabei entdeckten die Pathologen 21 Signal- und Stoffwechselprozesse - sowohl bereits bekannte als auch vielversprechende neue.

Die Forscherinnen und Forscher kamen zu dem Schluss, dass es in diesem Fall nicht ausreicht, Einzelgene zu vergleichen. Dieser Ansatz ließe kaum Rückschlüsse auf biologische Zusammenhänge zu. Die mathematisch komplexere Analyse auf Ebene ganzer Signal- und Stoffwechselwege ermöglicht belastbarere Rückschlüsse und lässt neue interessante Hypothesen zu.

„Die gewonnenen Erkenntnisse können die Grundlage für weitergehende Forschungsarbeiten bilden und im Idealfall könnten daraus neue Therapiemethoden entstehen“, sagt Baumgärtner.

Originalpublikation

Transcriptomic Meta-Analysis of Multiple Sclerosis and Its Experimental Models Barbara B. R. Raddatz, Florian Hansmann, Ingo Spitzbarth, Arno Kalkuhl, Ulrich Deschl, Wolfgang Baumgärtner, Reiner Ulrich PLOS ONE, DOI: 10.1371/journal.pone.0086643




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